Gestalttherapie

Gestalttherapie ist ein ganzheitlich orientiertes therapeutisches Verfahren, das dazu verhilft, unsere ungenutzten Kräfte und Möglichkeiten zu erschließen und unsere Lebendigkeit, Kontaktfähigkeit und Entscheidungsfreiheit zurückzugewinnen. Sie ist ein Weg, unser natürliches Wissen in der bewussten Wahrnehmung unserer Erfahrung hier und jetzt zur Entfaltung zu bringen.

Der physisch–psychische Organismus, der ich bin, – lässt sich nicht zu Veränderungen zwingen – weder durch strengen Willen noch durch lockende Vorbilder. Wirkliche Veränderungen geschehen nicht dann, wenn ich versuche zu werden, was ich nicht bin, sondern – wenn ich werde, was ich bin.

Ich bin, was ich gerade hier an diesem Ort und in diesem gegenwärtigen Moment bin, in den die mich bestimmenden Faktoren (Wünsche, Hoffnungen, ängste, Enttäuschungen, Einstellungen, Denkmuster und vor allem die Blockierungen und Unterbrechungen der spontanen äusserung meiner Bedürfnisse, zum Beispiel meiner Wut, Trauer, Freude und Liebe) hineinwirken, ohne dass sie mir klar bewusst sind.

In der gestalttherapeutischen Situation geht es darum, im unterstützenden und fordernden Spannungsfeld einer Ich–Du–Beziehung die Bewusstheit für diese Faktoren zu entwickeln – also Selbstgewahrsein zu erweitern, um herauszufinden, wer ein jeder von uns jetzt gerade ist.

Wir stören uns meistens in unserem gegenwärtigen Erleben durch Erinnerungen oder Erwartungen und verharren dadurch in „unerledigten Situationen“. In der Kindheit sinnvolle und schöpferische Anpassungen werden festgehalten und wiederholt und stören und unterbinden meine Entwicklung (typische Erscheinungen sind Autoritäts–, Leistungs–, Sexualitätsprobleme). Wir versperren uns vor unserer Gegenwart durch zwanghafte Beschäftigung mit Vergangenheit und Zukunft. Wir sind nicht wirklich da.

Wenn ich mir bewusst werde, wie ich mich in meinem Erleben störe, befreie ich meine Sinne von ihrer Abstumpfung, die durch die dauernde Beschäftigung mit diesen Störungen eingetreten ist. Meine Sinne kommen zur „Vernunft“ – meine Erfahrungsmöglichkeiten wachsen, ich entdecke bisher nicht von mir gesehene Möglichkeiten der Persönlichkeitsentfaltung.

Diese Störungen sind meist ein Gewirr von inneren Stimmen, durch die ich mich betäube und ruhig stelle: Ich bin deshalb fortwährend unzufrieden. Diese Stimmen kommen nicht von Anfang an aus mir heraus. Sie sind in mich hineingeredet worden. Sie haben mich konditioniert, sozialisiert, kulturisiert (sogenannte „Introjektionen“, d.h. fremde für mich unintegrierbare Ideale – Verinnerlichung von früher für mich wichtigen Personen und Situationen). Und ich habe mich irgendwann dafür entschieden, sie weiter zu reden und zu meinen Stimmen zu machen und dadurch auf meine eigene Stimme zu verzichten.

In mir streiten Kind und Erwachsener, Verfolgter und Verfolger, Beherrschter und Beherrscher, Bestrafter und Bestrafender. (Beispiele für Rede und Gegenrede: „Sei brav, benimm dich! … Ich will aber nicht!“ oder „Sei perfekt! Reiss dich zusammen!“ … „Ich kann aber nicht. Ich bemühe mich andauernd, aber ich versage immer wieder.“) Diese widerstreitenden Stimmen geben mir das Gefühl, ich sei in Teile gespalten. Ich sehe nicht, dass diese Teile zu einer Ganzheit gehören, obgleich ich als Organismus immer schon eine Ganzheit bin. Ich sehe nicht die Lücken zwischen diesen Teilen. Alles das jedoch bin ich.

Diesen Widerstreit kann ich hinter mir lassen durch zeitweilige volle Identifikation mit jeder der gerade für mich wichtigen Stimme in mir. Indem ich Verantwortung übernehme für meine Erfahrung mit ihnen, indem ich sie annehme als einen Teil von mir, nehme ich ihnen die Kraft, mit der sie mich bisher in ihren Streit immer wieder hineingezogen haben. Verantwortung heisst hier: ich halte mein Bewusstsein dafür wach, wie sehr ich selbst meine Erlebnisse und Erfahrungen hervorbringe, und handele aus diesem Bewusstsein heraus.

Erst wenn ich mich mit diesen Stimmen als meinen Stimmen voll identifiziere, kann ich die Freiheit gewinnen, mich von ihnen zu lösen und mich als mehr als diese Stimmen zu erfahren. Dann entdecke ich zunehmend meine eigene Stimme – eine Stimme, die weiser und liebevoller ist als alle meinen alten Stimmen: die Stimme meines gesamten Organismus. Sie spricht von meinen wirklichen Bedürfnissen in einer klareren Sprache zu einer von mir klarer wahrgenommenen Um– und Mitwelt.

Mit wachsendem Selbst–Bewusstsein kann ich mir aus meiner Um– und Mitwelt holen, was ich wirklich brauche, und geben, was ich wirklich geben will und geben kann ( meine Entscheidungen sind jetzt meine Entscheidungen und nicht mehr die Entscheidungen z.B. meines „inneren“ Vaters, meiner „inneren“ Mutter, meines Idols usw.). Ich kann mein Denken, Fühlen und Handeln jetzt weitgehend in Einklang miteinander bringen – ich bin in Einklang.

Und mein Leben entfaltet sich als ein Prozess schöpferischer Anpassungen. Ich kann dem Leben immer offener begegnen, so wie es sich mir zeigt – ich bin in der Lage, mich meiner eigenen Innenwelt und der Begegnung mit den Anderen zu stellen.