DER ERDE EINE STIMME GEBEN
Leben lernen und sterben lernen im Anthropozän –
Ein tiefenökologischer / ökopsychologischer Selbst-Erkenntnisprozess
Leitung: Nikolaus Einhorn
„Das Anthropozän bringt eine tiefgreifende ökologische Diagnose auf den Begriff: Der Mensch hat das gesamte Erdsystem so gravierend verändert, dass wir von einer neuen erdgeschichtlichen Epoche ausgehen müssen. Was heißt es, den Menschen als geologische Kraft zu verstehen? Was ist Natur, wenn sie weltweit vom Menschen beeinflusst und geformt ist?“ (E.Horn / H.Berthaller, Anthropozän,2019)
„Die heutige Herausforderung ist die, den Planeten vor der weiteren Zerstörung zu bewahren, die sowohl das erleuchtete Selbst-Interesse von Menschen und Nicht-Menschen verletzt, wie auch die Möglichkeit des freudvollen Seins für alle verringert. Wir müssen gemeinschaftliche Therapien entwickeln, die unsere Beziehung mit der größten Gemeinschaft heilen – der aller Lebenden Wesen.“ (Arne Naess, Selbstverwirklichung – Ein tiefenökologischer Zugang zum Sein in der Welt, 1986)
„Die schlimmste Zerstörung in unserer Welt geht nicht von psychopathischen Tyrannen oder Terroristen aus. Sie geht aus von ganz normalen Leuten – von gesetzestreuen, „moralischen“ Leuten, die zur Kirche gehen und ihre Familien lieben, die das Umherfahren in ihren Autos genießen, die ihre Flugreisen für den Urlaub buchen, ihre Hamburger essen und ihre Steaks, und die dabei vergessen, woher all diese Genüsse kommen und was sie in Wirklichkeit kosten. Sie vergessen dabei nicht, was diese Dinge im Laden kosten, sondern was sie kosten, wenn all die ungezählten Auswirkungen ihrer Herstellung und ihres Verbrauchs zusammengerechnet werden.“ (Ed Ayers, The Banality of Evil, World Watch, Vol 11, No.1, Jan.-Feb. 1998.)
“Heute beherrscht uns die Erde und nicht wir sie.“ (Bruno Latour)
Teil 1 Selbst und Gemeinschaft
Termine für 2024 werden noch bekannt gegeben.
Sie können gerne nachfragen.
In der industriellen Wachstumsgesellschaft sind wir gewohnt, mit unserer Umwelt nicht so zu leben, wie sie ist, sondern wie wir denken, daß sie ist: nahezu unbegrenzte Ressource, uns Menschen zu beliebiger Verfügung. Dieser „anthropozentrische Größenwahn“ (Günther Anders) hat zur Bedrohung der lebenserhaltenden Systeme geführt. Wir bangen um die Zukunft. Vor uns liegt das Lernen, in einer neuen Art und Weise in der Welt zu sein: als Mitwesen in der Mitwelt. Wir brauchen dazu eine erweitere Identität, in der wir (an)erkennen und erleben, dass wir integraler Teil eines umfassenden lebenden Systems sind, dass die Welt, die Erde eine Ausdehnung unseres eigenen Organismus ist.
Die Erfahrung zeigt: Die Probleme, vor denen wir stehen, lassen sich nicht mit denselben Denk- und Verhaltensmustern lösen, durch die sie entstanden sind. Hier liegt die zentrale Herausforderung für Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und für unser aller Bildung zur Zukunftsfähigkeit. Das Ziel besteht darin, unsere destruktiven Denk- und Verhaltensmuster in der Schwebe zu halten, sie ins Licht der Reflexion zu stellen, zu identifizieren, zu wandeln.
Um zur Zukunft fähig zu werden, um die Kluft zwischen unserem Wissen und Wollen und unserem tatsächlichen Handeln zu überwinden, brauchen wir dringend die Wiederentdeckung unserer tiefen Ökologie: der Einheit des Lebendigen. Wir sind als Lebewesen eingebettet in das Gefüge naturgegebener wechselseitiger Beziehungen und absoluter Abhängigkeiten, bilden mit unserer Umgebung eine unauflösliche Einheit. Wir sind – in einem besonderen Sinn – unsere Mitwelt – wir sind die Erde; die Welt; die Erde ist eine Ausdehnung unseres eigenen Organismus. Was wir ihr antun, tun wir uns selber an.
Jeder bewusste Atemzug kann uns darüber belehren. Wir stehen wieder einmal vor Fragen, die unsere Identität betreffen. Vor den Fragen, wer wir – im Lebenszusammenhang der Erde – sind und wer wir sein und wie wir leben wollen. Psychologische Theorie und Praxis und die Praxis unseres täglichen Lebens verlangen nach einer neuen Ausrichtung, wenn wir die Einsichten der Ökologie, der Lehre offener, lebender, sich entwickelnder Systeme und der Gesamtheit ihrer Beziehungen zu ihrer Umwelt, in angemessener Weise in Betracht ziehen.
„Vielleicht ist da erst noch eine spirituelle Arbeit zu tun, bevor die Menschen zu einer schöpferischen Idee gelangen, genauso wie es nach einem Verlust notwendig ist zu trauern, ehe man ans Weiterleben denken kann… Die Notlage, in die wir uns gestürzt haben, verlangt von uns ein tiefes Trauern, ein gründliches Nachdenken und allen Einsatz, um sie wieder rückgängig zu machen. Es werden grundlegende Veränderungen stattfinden müssen. Was betrauert werden, worüber gründlich nachgedacht, was wieder gut gemacht werden muß, ist die Art und Weise, wie wir leben und wohin sie uns geführt hat. Im Großen und Ganzen sind wir nicht glücklich gewesen, und wir leben in Furcht.“ (Paul Goodman, „Declaring Peace Against the Governments“, 1962.)
Teil 2 Wechselseitige Abhängigkeit
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Hier liegt die besondere Bedeutung der tiefen Ökologie und der Ökopsychologie. Die Ökopsychologie arbeitet daran, gemeinschaftliche Therapien zu entwickeln, die unsere Beziehung zu der größten Gemeinschaft heilen, der aller lebenden Wesen. Die Ökopsychologie hat das Konzept des ökologischen Selbst hervor-gebracht und den Prozeß der bewußten Identifikation in den Vordergrund gestellt. Beide dienen dazu, uns verständlich und erlebbar zu machen, dass wir Menschen uns außerordentlich unterschätzen, wenn wir unsere Selbst-Verwirklichung mit der Befriedigung unserer individuell / persönlichen beziehungs-weise unserer kollektiv / menschlichen Interessen gleichsetzen.
Die Ökopsychologie hat Zugangsweisen und Verfahren entwickelt, die das Ausweiten und Tieferwerden des Selbst ermöglichen, die verstehbar und erfahrbar werden lassen, dass und wie das Individuum in und durch seine vieldimensionalen Wechselbeziehungen mit anderen Menschen, anderen Lebewesen und mit der Erde als lebendem System existiert. Wir binden uns durch sie bewußt wieder ein in unsere Naturgeschichte, in unser menschliches Mitsein mit der natürlichen Mitwelt.
Das schließt ein, dass wir es wagen, uns auch dem Schmerz, der Angst, dem Zorn, dem Gefühl der Machtlosigkeit und der Verzweiflung, der Sorge und der Anteilnahme zu öffnen, die wir angesichts des Ausmaßes menschlichen Leides in der Welt und der Zerstörung von Ökosystemen und der Lebensgrundlagen unvermeidlich – wenn auch im Verborgenen – empfinden. Indem wir solche Gefühle nicht mehr verdrängen und sie vor uns selbst und voreinander nicht mehr verleugnen und verschweigen, stellen wir wesentliche Rückkop-pelungsschleifen in uns selbst und zwischen uns und unserer Welt wieder her.
Wir lösen den Zustand „psychischer Betäubung“ („psychic numbing“) – dem nach Robert Jay Lifton („Der Verlust des Todes“) auffälligsten und gefährlichsten psychologischen Faktum unserer Epoche – wieder auf. Wir erfahren uns als miteinander verbunden und als zugehörig zum Leben auf diesem Planeten, erkennen unseren Platz in der Ordnung der Dinge. Wir kommen dadurch wieder in Kontakt mit unserer tiefen Liebe zum Leben und mit unserer Fähigkeit, angemessen und entschieden zu handeln – und dies gerade auch im gesellschaftspolitischen Leben. Denn unser Handeln ist immer nur Ausdruck unseres Selbst-Verständnisses.
Gemeinsamer Lern- und Erfahrungsprozess
Die Seminare bauen aufeinander auf und sind – einzeln und insgesamt – angelegt als ein gemeinsamer Lern- und Erfahrungsprozeß, in dem die tiefenökologische / ökopsychologische Perspektive sich entfaltet in einem lebendigen Wechsel von experimentellen Situationen:
Prozessen gemeinschaftlicher Selbsterforschung, in denen individuelle und persönliche Erfahrungen als Teil eines gesamtgesellschaftlichen Geschehens erlebt werden;
Erfahrungsprozessen, in denen erlebbar und nachvollziehbar wird, was es bedeutet, ein offenes, lebendes, sich entwickelndes System im Kontext der Biosphäre zu sein;
Gesprächs- und Arbeitsrunden, in denen theoretische / konzeptionelle Integration und professioneller Austausch über den „ökotherapeutischen“ Prozess miteinander verbunden werden;
und Situationen und Prozessen, die sich durch die Selbstregulierung der Teilnehmergruppe als offenes System von selbst ergeben werden.
Aus dem gemeinsamen Fragen und Forschen werden die Teilnehmenden eine tiefere Einsicht in die Dynamik des Wandels von der Industriellen Wachtumsgesellschaft zu einer lebenserhaltenden Kultur erhalten und neue Ideen mitnehmen, neue Ansätze und Methoden für die eigene Arbeit und das eigene Leben.
„Wirklich betroffen sind wir von der Mitweltzerstörung nur dort, wo sie schneller voranschreitet als die gleichzeitige Verkümmerung unserer Sinne.“ (Klaus Michael Meyer-Abich, „Aufstand für die Natur“, 1990)
Literatur
Rupert Read / Samuel Alexander, Diese Zivilisation ist gescheitert, Gespräche über die Klimakrise und die Chance eines Neuanfangs,
Meiner Verlag, Hamburg, 2020;
Meinhard Miegel, Das System ist am Ende. Das Leben geht weiter, Verantwortung in Kirsenzeiten, oekom-Verlag München, 2020;
Bruno Latour, Das terrestrische Manifest, edition suhrkamp, 2018.
Bruno Latour, Kampf um Gaia, Acht Vorträge über das Klimaregime, Suhrkamp Verlag Berlin, 2017
Theodore Roszak, Ökopsychologie – Der entwurzelte Mensch und der Ruf der Erde, Stuttgart, Kreuzverlag, 1994
Robert Jay Lifton, Der Verlust des Todes – Über die Sterblichkeit des Menschen und die Fortdauer des Lebens, Frankfurt, 1989
Joanna Macy, Die Reise ins lebendige Leben, Strategien zum Aufbau einer zukunftsfähigen Welt, Jungfermann, 1998
Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen – Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München, 1986 und 20